Der Hirsch

Bisher habe ich hier eher essayistische Texte veröffentlicht. Das nachfolgende ist nicht die erste Kurzgeschichte, die ich geschrieben habe, aber die erste, die ich veröffentliche. Ich freue mich auf konstruktive Kritik und Kommentare.

Ich war schon eine ganze Zeit lang unterwegs und brauchte mal eine Pause. Die Luft war frisch, weit über mir wurden die Wipfel der Bäume vom Wind gestreichelt. Ich setzte mich auf einen großen Stein, der aus dem feuchten Waldboden herausragte, und stellte meinen Rucksack vor mir ab. Während ich ein paar Bissen von meinem Proviant nahm, blickte ich mich um. Die Bäume standen so nah beieinander, dass ich kaum mehr als fünfzig oder sechzig Meter weit gucken konnte. Mir war gar nicht aufgefallen, wie dicht der Wald hier war. Aber ich mochte es, abseits der ausgetretenen Wege zu spazieren. Ich genoss es, im Wald zur Ruhe zu kommen. Manchmal wurde es einfach alles zu viel, da konnten ein paar Stunden hier draußen wirklich Wunder wirken.

Ich war nur mit einem Pullover aufgebrochen und eigentlich sollte das auch hier in den Schatten reichen. Unten im Tal war es sogar viel zu warm für diese Jahreszeit. Aber mit einem Mal kroch ein kalter Schauer meinen Rücken hoch. Gleichzeitig wehte ein fauliger Hauch durch die bisher vom Geruch von Harz und feuchtem Moos erfüllte Luft. Wahrscheinlich ein Tier, das irgendwo in der Nähe verweste war. Hier draußen hatte ich das schon ein oder zwei Mal gesehen. So war die Natur eben. Als der Geruch intensiver wurde, entschloss ich mich, weiter zu gehen. Meiner Karte nach war wenige Kilometer entfernt eine Lichtung, ich würde mich dort noch ein wenig hinsetzen.

Erst blickte ich auf meinen GPS-Empfänger, dann schaute ich mich noch einmal um. Der Wald erschien mir jetzt noch ein bisschen dichter und noch ein wenig dunkler, als vorher. Aus welcher Richtung war ich noch gleich gekommen? Vorher erschien mir der Weg recht eindeutig, zumindest ein kleiner Trampelpfad hatte hierher geführt, da war ich mir sicher. Aber irgendwie entdeckte ich ihn jetzt nicht mehr. Aber gut, vielleicht hatte ich mir den Weg auch nur vor meinem inneren Auge zwischen den Büschen und Bäumen erkannt. Ich stand auf, schulterte meinen Rucksack und ging los. Die Temperaturen waren während meiner kurzen Rast weiter gefallen. Der Boden wurde immer steiniger und immer mehr Wurzeln ragten aus dem vorher nur von kleinen Pflanzen bedeckten Nadelteppich unter meinen Füßen. Ich fühlte mich inzwischen ein bisschen verloren. Auch wenn ich schon oft abseits der Wanderwege unterwegs gewesen bin, so allein war ich mir lange nicht vorgekommen. Es war auch stiller geworden. Vögel waren kaum noch zu hören, nur noch das leise Rauschen weit über mir, welches aber auch durch das dichte Astwerk gedämpft wurde.

Immer noch hing dieser Verwesungsgeruch in der Luft. Das wunderte mich, denn ich war inzwischen einige hundert Meter weiter und kein Mal hatte ich das Gefühl gehabt, dass er nicht da war. Woran konnte das liegen? Wenn ein Tier hier in der Nähe gestorben war, würde sich der Geruch in ein paar Metern, vielleicht ein paar Dutzend Metern, Umkreis verbreiten, aber doch nicht so weit. War ich in irgendwas reingetreten, hatte ich mich irgendwo rein gesetzt? Ich schaute unter meine Schuhsohlen, tastete meine Kleidung vorsichtig ab, aber fand nichts. Das alles machte mich missmutig. In der Natur starben ab und zu Tiere, das war nun mal so. Aber trotzdem fühlte ich mich zunehmend unwohl. Die inzwischen dicht an dicht stehenden Bäume trugen nicht dazu bei, dass es mir besser ging.

Doch nachdem ich noch einige Minuten gelaufen war, wurde der Wald langsam wieder lichter. Unter die Nadelbäume mischten sich immer mehr Laubbäume, Eichen, eine große Kastanie, einige Buchen. Inzwischen kannte ich mich ein wenig mit den Pflanzen aus. Immer wieder mal hatte ich mich den ganzen Abend durch Websites geklickt, um etwas über die Vielfalt der Botanik zu lernen. Mehr Sonnenstrahlen drangen wieder bis zum Boden, der hier weniger steinig und mit weichem Laub bedeckt war. Wärmer wurde es allerdings nicht, ich fröstelte immer noch. Und Verwesung lag auch hier in der Luft. Wobei ich mich langsam daran gewöhnt hatte. Außerdem war die Lichtung recht schön und ich brauchte jetzt definitiv eine Pause.

Eigentlich war das hier ein friedlicher Ort. Ein echtes Refugium, diese Waldlichtung. Erst recht mit dem Sonnenschein. Zumindest sah es schön aus und auf Bildern merkte niemand etwas von der Kälte und dem seltsamen Geruch. Ich setzte mich und packte erneut meinen Proviant aus. Dieser finstere Abschnitt des Waldes, durch den ich gekommen war, gruselte mich immer noch ein wenig. Aber langsam entspannte ich mich und genoss einen kräftigen Schluck aus meiner Wasserflasche. Und als wenn dieser Moment nicht schon herrlich genug gewesen wäre, hörte ich in der Ferne das Röhren eines Hirschs. Was für ein Klischee, dachte ich bei mir. Dieser wunderschöne Ort ließ mich die Zeit vergessen. Ich träumte ein wenig vor mich hin und genoss es, eine Pause vom Alltag zu haben. Ich war so tief im Wald, dass nicht einmal irgendeine Straße zu hören war. Wobei mich wunderte, dass hier wenige Vögel zwitscherten. Andererseits störte mich die Stille auch nicht besonders. Auf der Lichtung wuchsen Gras und kleine Büsche. Besser gesagt, sie wucherten. Das mochte ich so an der Natur, an diesen Wäldern. Hier gab es keine Zwänge, keine Schranken, keine Scheren. Noch während mir dieser Gedanke durch den Kopf schoss, hörte ich das Röhren erneut. Diesmal ein gutes Stück lauter. Ob ich noch einen Hirsch würde sehen können? Das wäre wirklich die Krönung für diesen wundervollen Tag. Wenn ich mich ruhig verhielt, würde er vielleicht zu der Lichtung kommen.

Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass der Verwesungsgeruch wieder da war. Oder war er überhaupt weg gewesen? Ich war mir nicht sicher, jetzt zerrte er jedenfalls geradezu an meinen Geruchsnerven. Seltsam, es wehte kaum Wind, wieso war der Geruch jetzt so viel stärker? Und auch die Temperaturen waren weiter gesunken, sie kroch mir jetzt spürbar unter den Pullover. Ungewöhnlich war das alles schon, aber ich wusste auch, dass zu dieser Jahreszeit das Wetter schnell wechseln konnte. Wenn Regenwolken eine Kaltfront vor sich her schoben, dauerte es manchmal nicht eine Stunde, dass die Temperaturen um einige Grad fielen. Wirklich beunruhigend fand ich bei all dem nur, dass der Himmel klar war. Die Sonne sandte ihre Strahlen durch das Blattwerk und es war keine Wolke in irgendeiner Richtung zu sehen. Da hörte ich wieder das Röhren. Es musste ziemlich nah sein, noch näher als eben. Ein hallender Unterton klang darin mit. Auch der Geruch war noch stärker geworden. Langsam wurde ich nervös. Irgendetwas stimmte hier nicht. Ich blickte mich um. Ein Hirsch stand auf der Lichtung, nur wenige Meter von mir entfernt. Ich erschrak, ich schrie aus den Tiefen meiner Lunge, noch bevor ich begriff, was vor sich ging. Instinktiv schnellte ich hoch und wich ein paar Schritte zurück. Aber der Hirsch stand nur da, sein Fell schien zu dampfen. Meine Brust schnellte auf und ab während ich versuchte, mich wieder zu beruhigen. Es war nichts passiert, aber dieser plötzliche Anblick hatte mir einen heftigen Schrecken eingejagt.

Erst jetzt bemerkte ich auch, warum mich der Anblick wohl unterbewusst so erschreckt hatte. Der Hirsch sah seltsam aus. Sein Fell war fleckig, sein Geweih an einigen Stellen abgebrochen, eine dunkle Flüssigkeit tropfte aus seinem leicht geöffneten Maul. Ich erkannte zuerst nicht so recht, was es für Flecken waren, die sein Fell und seine Haut übersäten. Sie waren gräulich, an einigen Stellen rotbraun. Bei näherem Hinsehen erkannte ich, dass es Wunden waren, einige davon eitrig. Die Sonne spiegelte sich in der Flüssigkeit, die aus dem Maul des Hirsches tropfte. Sie hatte eine tiefrote, fast schwarze Farbe. Der Hirsch stand seitlich zu mir, daher sah ich nur eins seiner Augen, aber dieses schien er schon vor langer Zeit verloren zu haben. Es waren nur die von Blut und irgendwelchen anderen Flüssigkeiten verklebten Augenlieder zu sehen. Noch einmal ließ der Hirsch sein Röhren erklingen. Diesmal erkannte ich ganz eindeutig einen Unterton darin, ein Echo, als wenn es aus weiter Ferne herüberschallte. Gleichzeit zog ein kurzer Lufthauch an mir vorbei, direkt aus der Richtung, in der der Hirsch stand. Er wehte eisige Kälte und wieder diesen Verwesungsgeruch mit sich, diesmal um ein vielfaches stärker als vorher. Ich musste würgen, mir wurde schwindelig. Der Hirsch wandte mir seinen Kopf zu. Da bemerkte ich, dass auf der linken Seite der Schädel frei lag. Ich konnte in die leere Augenhöhle blicken. Dieses Tier war ganz eindeutig tot. Oder sollte es sein. Und zwar schon seit langer Zeit, so wie es aussah.

Mir wurde klar, dass ich die letzten Sekunden bewegungslos dagestanden hatte. Jetzt setzte ich vorsichtig einen Fuß hinter mich und bückte mich zugleich nach meinem Rucksack. Dabei wandte ich den Blick nicht von dem Hirsch ab, so schwer es mir fiel. Dieser bemerkte offenbar, was ich vorhatte und ging langsam auf mich zu. Ich wollte meinen Rucksack greifen und nur noch rennen, so schnell es ging. Aber ich konnte nicht. Der untote Körper, die Kälte, ich stand unter Schock. Bei jedem seiner staksenden Schritte erklang feuchtes Schmatzen aus Richtung des Hirsches. Jetzt stand er direkt vor mir und schien mich anzusehen, obwohl er keine Augen mehr hatte. Ein feuchtes Schnauben entfuhr seinen Nüstern, die Luft war so kalt, dass sie in meine Haut stach. Angst und Eckel zwangen mich dazu, mich abzuwenden.

Da bemerkte ich, dass es dunkler geworden war. Immer noch schien die Sonne zwischen den Wipfeln herab, aber sie war schwächer als vorher. Zugleich bemerkte ich aus dem Augenwinkel ein Flackern. Um mich herum knisterten überall kleine Flammen an einigen der Bäume empor. Dennoch spürte ich nicht ein bisschen Wärme. Noch einmal röhrte der Hirsch. Tief aus seiner Kehle drang ein eisiger Wind, mir wurde schwindelig. Meine Beine sackten zusammen, ich stützte mit Mühe meinen Fall. Alles wurde schwarz um mich. Aus weiter Entfernung hörte ich ein rhythmisches Prasseln, ein Geräusch, dass ich nicht zuordnen konnte. Vor meinen Augen tanzten die kleinen Flammen umher, die ich zuvor an einigen der Bäume gesehen hatte. Dann war es still.

Ich wusste nicht, wie lange ich bewusstlos dagelegen hatte. Das erste, was ich bemerkte, waren die frostigen Temperaturen. Schlagartig wurde mir wieder bewusst, wo ich war. Aber ich konnte nicht lange ohne Bewusstsein gewesen sein. Ich fühlte mich nicht ausgekühlt. Aber was hatte ich da eben erlebt? War das wirklich passiert? Hatte ich halluziniert? Langsam klärte sich mein Blick. Ich schrak hoch. Um mich herum hatte sich der Wald verändert. Viele Bäume waren verbrannt, ihre Reste sahen wie knöcherne schwarze Finger aus, die mahnend in den Himmel gereckt wurden. Aber einige Pflanzen waren vollkommen unversehrt. Es schienen alles Eichen zu sein. Die Wiese in der Mitte der Lichtung war jetzt nur noch von flachem Gras bewachsen, keine fünf Zentimeter lang. In der Mitte saß der Hirsch. Sein Fell glänzte jetzt nussbraun, sein Geweih war stolz empor gereckt, keine Zeichen mehr von Krankheit oder Untod. Es war ruhig und beinahe irritierend ordentlich. Die Sonne schien, der Verwesungsgeruch hing nicht mehr in der Luft. Nur die abgebrannten Bäume trübten das Bild einer musterhaften Idylle. Die Kälte jagte mir wieder einen Schauer über den Rücken. Ich spürte sie nicht nur auf der Haut, sondern auch in mir, in meinen Gedanken, meinen Gefühlen. Das einzige, was ich noch wollte, war weg. Ich nahm meinen Rucksack und drehte der Lichtung meinen Rücken zu. Dann rannte ich. Und rannte und rannte und rannte.