Hiroshima und Nanjing

Das Gedenken an die Opfer der Atombombenabwürfe ist zu einem einseitigen Spektakel verkommen. Warum die Bomben fielen darf genauso wenig in Vergessenheit geraten, wie ihr Schrecken.

Anfang August jährt sich wieder der Atombombenabwurf auf Hiroshima. Eines der großen Ereignisse der Friedensbewegung. Jedes Jahr werden Geschichten von den Opfern der Bombe erzählt. Schreckliche Geschichten von verbrannter Haut, geschmolzenen Augäpfeln und der zwölfjährigen Sadako Sasaki. Jenem kleinen hoffnungsvollen Mädchen, das durch die Strahlung der Bombe an Leukämie erkrankte und nicht aufgeben wollte. Sie faltete Papierkraniche – angeblich 1600 Stück bis zu ihrem Tot im Alter von 22 im Jahr 1955 – weil sie nicht sterben wollte. Die Kraniche sollten ihr diesen Wunsch erfüllen und sind heute ein internationales Symbol der Friedensbewegung. Auch in Deutschland wird die Geschichte gerne erzählt. Die Geschichte vom Opfer der amerikanischen Bomben. Denn niemand käme auf die Idee, von der kleinen Eva zu erzählen, die in Dresden verbrannte. Aber schon in der Schule lernen Kinder, wie grausam der Abwurf der Bomben war und wie reuelos sich die Crew der Bomber teils zeigte. Genau in dieser Reihenfolge. Eine Herleitung gibt es dazu meist nicht.

Sadako Sasaki war eines der unschuldigen Opfer dieses Angriffs, den heute viele als Kriegsverbrechen bezeichnen. Trotzdem finden sich jedes Jahr genauso Menschen, die den Angriff bei all seiner Grausamkeit rechtfertigen. So ging das US-Militär bei einem weiteren Verlauf des Krieges im Pazifik von mehr als 500.000 eigenen Gefallenen aus, dazu zivile Opfer, japanische Soldaten und Verwundete. Japan war zur Festung ausgebaut worden und über eine Millionen Soldaten standen auf den Hauptinseln unter Waffen. Auch wenn das Kaiserreich schon geschwächt war, in der japanischen Armee gab es einen Kampfeswillen und Opferbereitschaft, die jeden Unterscharführer vor Neid erblassen lassen hätten. Die berühmten Kamikazeangriffe sind nur eines von vielen Beispielen.

So entschied sich US-Präsident Truman zum Abwurf der Bomben. Am 06. August 1945 erfolgte der erste militärische Einsatz von Kernenergie. Heute ein Gedenktag gegen die militärische Nutzung von Atomkraft. Solche Gedenktage sind auch Tage, an denen Einzelschicksale in den Mittelpunkt rücken. Jene Schicksale, die den Opfern der Grausamkeiten ein Gesicht geben. Jedes Jahr aufs Neue, in den Abendnachrichten und auf den Titeln großer Zeitungen. Warum die Bomben fielen gerät dann manchmal in Vergessenheit. Welche Grausamkeiten die japanischen Besatzer in China und Korea verübten. Wie das Massaker von Nanjing 1937, bei dem allein drei Mal so viele Menschen starben, wie bei den beiden Atombombenabwürfen. Geköpft, erschossen, lebendig begraben – Männer, Frauen, Kinder. Sie haben keine Namen. Genauso wenig wie die meisten Opfer der Einheit 731, deren Experimente an Menschen in ihrer Grausamkeit mit denen deutscher Ärzte zur selben Zeit vergleichbar sind. Diese Menschen haben keine Gedenktage.

Kann man ihr Leid gegen das der unschuldigen Opfer von Hiroshima und Nagasaki aufwiegen? Nein, Leid kann nie aufgewogen werden. Doch wenn Einzelschicksale genutzt werden, um auf Grausamkeiten aufmerksam zu machen – gerade so, als wenn noch zu wenige Menschen wüssten, welchen Schrecken die Atombomben mit sich bringen – dann darf niemand vergessen, warum es so gekommen ist. Und noch viel wichtiger, warum diese Einzelschicksale so viel Aufmerksamkeit bekommen und andere nicht.

China und Nordkorea lagen nach dem Zweiten Weltkrieg bald hinter dem Eisernen Vorhang, Südkorea war lange Zeit eine international nur wenig beachtete Militärdiktatur. Japan dagegen war ein wichtiger Verbündeter des Westens im Pazifik und hatte genug Gelegenheit, die Toten der Bombenabwürfe zu beklagen. Aber wenn die Geschichte von Sadako Sasaki erzählt wird, muss auch die Geschichte der Trostfrauen erzählt werden, denn sie ist untrennbar mit den Atombomben verbunden. Diese unschuldigen Opfer der Expansionspolitik in den besetzten Gebieten müssen mindestens genauso viel Aufmerksamkeit bekommen, wie die unschuldigen Opfer einer militarisierten Repressionspolitik in Japan selbst.